»Anders sind immer nur die anderen«

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#Beratungssplitter Nr. 64

von Patrizia Tonin

International agierende Organisationen und immer mehr KMUs sehen es als unternehmerische Verpflichtung, sich mit Diversität auseinander zu setzen. Dies spiegelt sich in den Leitsätzen der Betriebe mit Versprechen, die Vielfalt ihrer Mitarbeiter*innen und Kund*innen wertzuschätzen und zu fördern. Doch was steckt dahinter und wie wird Diversität und Inklusion in der Praxis wirklich gelebt?

Sind wir so divers wie wir meinen?

john schaidler 9V3Q2W mRLE unsplash 2Vermutlich nicht. Wir sind europäischstämmige, weiße Frauen und Männer (so genannte „caucasian“) in einer vergleichbaren Altersgeneration und wir teilen ähnliche Ansichten über Menschenbilder und Beratung. Doch selbst bei den Kerndimensionen von Diversität, welche die eher unveränderlichen und sichtbaren Merkmale umfassen, ist nicht alles so eindeutig wie es auf den ersten Blick erscheint. Wir denken, wir sind unvoreingenommen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Ethnizität oder geschlechtlicher Orientierung. Machen wir dazu ein kleines Gedankenexperiment und erlauben uns ein paar Clichés zu strapazieren. Wem trauen wir zum Beispiel mehr Finanzkompetenz zu: dem 50-jährigen weißen Mann im grauen Business-Anzug oder der jungen schwarzen transgender Frau im Minirock?

Jedes Quartal nehmen wir uns in der GfP ein Lernthema vor, mit dem wir uns intenstiv beschäftigen. Im Rahmen der letzten Lernreise haben auch wir uns mit dem Thema »Diversity und Inklusion« beschäftigt. Als Berater*innen wollten wir fundierte Aussagen entwickeln und unsere eigene Praxis kritisch hinterfragen.

Abkürzung (können) verzerren

 

Eine Erkenntnis aus unserer Lernreise lautet: Wir alle sind nicht von Vorurteilen gefeit. Wir unterlaufen permanent unbewussten kognitiven Verzerrungen (unconscious bias), die automatisch tief in uns verwurzelte Stereotypen aktivieren. Diese Bias erleichtern uns die Bewältigung unseres Alltags, denn sie reduzieren die Komplexität der Informationsflut und lassen sie uns leichter verarbeiten. Unser Gehirn nimmt gedankliche Abkürzungen und wie in unserem Beispiel entsteht im Zusammenspiel von Beobachtung (jung-schwarz-transgender-Minirock versus reif-weiß-Mann-grauer Business-Anzug) eine blitzschnelle Interpretation und Bewertung dieser Fakten. Unsere unbewussten Denkmuster sind eng mit unseren Emotionen verknüpft. Welcher der beiden Personen trauen wir also eher unsere Finanzen an? Und was wäre, wenn wir ein paar Daten tauschen würden, zum Beispiel den Minirock mit dem grauen Anzug?

Unsere Entscheidungen und unser Handeln sind in der Regel keine rationalen Prozesse, sondern das Ergebnis unserer Emotionen, Interpretationen und Bewertungen … und können uns somit in die Irre führen. Vom Stereotyp zur Diskriminierung ist es nur ein kleiner Schritt. Die Reflexion unserer Denkmuster und die Diskussion mit den Kolleg*innen hat uns eigene Stereotype vor Augen geführt. Solche unbewussten Denkmuster lassen sich nicht einfach ablegen, aber man kann sie ein Stück mehr ins Bewusstsein rücken und hinterfragen, um zu besseren Bewertungen und Entscheidungen zu kommen.

Was bedeutet das für unsere gelebte Praxis?

Ich erlebe, dass Seminarteilnehmerinnen – hier bewusst die weibliche Form gewählt – mich oder auch meist ältere Teilnehmer (Männer!) darauf aufmerksam machen, wenn wir nicht gendern. Ob wir nicht wichtigere Probleme hätten als das Binnen-Sternchen? Sicher gibt es wichtigere Probleme, aber deswegen muss man nicht die kleineren beiseite wischen. Denn Sprache schafft Realität. Die Inklusion aller Geschlechter-Identitäten äußert sich nicht zuletzt darin, wie wir sprechen. Wen wir sprachlich sichtbar machen und wen nicht. Sprache ist symbolisch aufgeladen und daher ist es richtig, darauf aufmerksam zu machen – auch wenn es zuweilen unbequem oder nervig ist. Als Beraterin will ich ja, dass alle ihren Platz haben und sich niemand aus dem Diskurs ausgeschlossen fühlt.

Diversity heißt schließlich, dass Organisationen Rahmenbedingungen schaffen, in denen die vielfältigen Talente, die kulturellen Erfahrungen und Hintergründe des Einzelnen wertgeschätzt werden. Man ist schließlich niemals nur Frau oder homosexuell, Migrant oder religiös. Diversität hat ganz viele Dimensionen, angefangen bei den charakterlichen Merkmalen über die inneren Kerndimension, zu denen etwa Geschlechterzugehörigkeit, sexuelle Orientierung oder Hautfarbe zählen, bis hin zu den äußeren Dimensionen – wie sozioökonomischer Status und Schulbildung auf der einen Seite und den organisationalen Dimensionen auf der anderen, welche zum Beispiel Funktion oder Dauer der Firmenzugehörigkeit beschreiben (vgl. Diversitiy-Rad nach Lee Gardenswartz & Anita Rowe, 1995).

Wir erleben, wie unsere Toleranz für Andersartigkeit rasch an Grenzen stößt, wenn die eigenen Werte und Überzeugungen verletzt werden. Das erleben wir vermehrt in einer Gesellschaft, die auseinanderdriftet und Lager bildet, wie etwa Impfbefürworter*innen versus Corona-Leugner*innen. Es kostet einen Kraftakt, miteinander zu reden und zu hören, was die oder den Andersdenkenden bewegt. Diversität heißt aber auch diese Andersartigkeit zu akzeptieren und eben nicht zu missionieren, um das Abweichende an die eigene Norm anzupassen – was meist nur durch Gewalt gelingt und insofern Unsinn ist. Organisationen können allerdings einen Ordnungsrahmen schaffen, an dem sich alle Beteiligten zu halten haben; und in den Diskurs einsteigen, verstehen, was die Menschen bewegt.

Bei Diversity und Inklusion geht es aber nicht um Sonderbehandlung von einzelnen, sondern um eine faire Behandlung von allen. Das Anderssein beginnt nicht beim anderen, sondern setzt in der Wahrnehmung des eigenen Bezugsrahmens an. In der Sichtbarmachung von Unterschieden und konstruktiven Nutzung eben dieser. Das bedeutet, den Konflikt nicht zu scheuen, sondern die Spannungen, die aus diesen Unterschieden entstehen, ansprechen und gemeinsam Lösungen entwickeln. Das kostet Zeit und Energie, führt aber zu besseren Ergebnissen. Diversity und Inklusion dienen als wichtige Treiber für die individuelle wie für die organisationale Resilienz.

Fazit unserer Lernreise

Unsere Lernreise hat gezeigt, dass Diversity und Inklusion nicht selbstverständlich sind, sobald wir an ihrer Oberfläche kratzen. Wir haben erkannt, dass wir häufiger als uns lieb ist, unbewussten Verzerrungen unterliegen. Dass wir Menschen ausschließen, die nicht zu uns passen und dass wir es uns lieber in unserer Bubble bequem machen mit Leuten, die so ticken wie wir. Dass wir also wenig beitragen, um Diversität und Inklusion zu verbessern und dass wir noch weit entfernt sind von Chancengleichheit für alle. Die Lernreise hat uns allerdings sensibilisiert und wir konnten einander über unsere Diversitäten besser kennenlernen. Die Chance besteht, dass wir genauer hinschauen und unsere unbewussten Bewertungen aufs Korn nehmen.

 

Bild: Unsplash / John Schaidler

Tags: Diversity Lernreise