Achtsamkeit / Eigenschaft, Fähigkeit oder Bereitschaft?
Achtsamkeit: Neues Allheilmittel und auf dem besten Weg zum Megatrend erklärt zu werden. Doch wie so oft ist neu eher nur aufgewärmt und neu-artig vermarktet. Berater Josef Hinterecker beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem besagten Konzept. Ein kritischer Kommentar.
»Bitte seien Sie achtsam ...« Wer regelmäßig mit der Wiener U-Bahn fährt, kann diesen Satz mit Sicherheit vervollständigen. Mit der stetig zunehmenden Ermahnung zu erhöhter Achtsamkeit, hat die Verwendung dieses Begriffs, welcher in der deutschen Sprache paradoxerweise mit einer Zahl beginnt, für so manchen bereits seine Schmerzgrenze erreicht. Doch woher stammt der Begriff überhaupt? Und warum heißt es nicht Siebensamkeit?
Wer sich näher mit Wort »Achtsamkeit« auseinandergesetzt hat, wird dessen Wurzeln zu den Meditationsmethoden buddhistischer Lehren zurückverfolgen können. Buddhismus-Verweigerer stolpern spätestens in Verbindung mit der Psychotherapie auf ihn.
Wikipedia definiert Achtsamkeit unter anderem auch als eine Persönlichkeitseigenschaft. So gesehen, kann der wortverwandte Begriff zur Aufmerksamkeit, als Werkzeug dienen, welches den Grad achtsamen Verhaltens messbar machen könnte. Sie haben richtig gelesen: „könnte!“ Die Anwendung dieser Eigenschaft benötigt - wie bei allen anderen Eigenschaften - neben einem klaren Verständnis auch die Fähigkeit zur Bereitschaft.
Mit anderen Worten: Achtsam sein zu müssen, ist eine Sache. Es auch zu können, eine andere. Frauen und Männer haben, was das betrifft, unterschiedliche Wahrnehmungen. Die an die Jahreszeit neu angepasste Wohnzimmerdekoration bleibt dem Mann oft genauso unsichtbar und verborgen, wie der Frau die glanzpolierten Alufelgen nach dem Wechsel von Winter- auf Sommerreifen. Dass, das nur eines von vielen Klischees ist, ist mir bewusst. Würden jedoch beide, kurz inne halten und bewusst die Fähigkeit zu erhöhter Achtsamkeit einsetzen wollen, so könnten sie auch die Veränderung bewusster und vor allem schneller, wahrnehmen.
Somit ist der Schlüssel zu einem aufmerksameren Verhalten, immer eine von innerer Ausgeglichenheit begleitete Bereitschaft zur Achtsamkeit.
Das angeführte Beispiel umfasst allerdings nur einen Bereich jener Begrifflichkeit, die sich in weiterer Folge in eine innere und eine äußere Achtsamkeit unterteilen lässt.
Wer beispielsweise an den Fähigkeiten der äußeren Wahrnehmungswerkzeuge, bekannt als unsere fünf Sinne, arbeitet, erscheint für manch andere oft als Gedankenleser. Allerdings ist ein solch antizipatives Verhalten nur das Resultat erhöhter Aufmerksamkeit. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort, ist somit nur selten eine reine Glückssache. Ein richtiger »Riecher« bedeutet folglich, dass unser olfaktorisches Sinnesorgan bereits schon vorab, bewusster zum Einsatz kam. Ob wir etwas Voraussehen können, oder hören was die Spatzen vom Dach pfeifen, zeugt zum Einen vom effizienten Einsatz unserer äußeren Wahrnehmungswerkzeuge und zum Anderen von der Fähigkeit die erhaltene Information für uns richtig interpretieren und anwenden zu können.
Jede von Außen gelieferte Information bewirkt eine Reaktion in uns.
Ob das ein stechender Geruch, oder ein falsches Wort ist, eine sanfte Berührung oder ein atemberaubender Anblick. Informationen dieser Art beeinflussen unser Gefühlsleben. Zur bewussten Erfassung dieser Gefühle, dient die Fähigkeit zur »inneren Achtsamkeit«.
Und hier sind wir schon an jenem Punkt angelangt, der den aktuellen Achtsamkeits-Hype ausgelöst hat. Die Erwartung an einen Begriff, der als Universallösung für alle Problemstellungen dienen soll. Im Klartext: Achtsamkeit kann heilend wirken!
Das führt allerdings das gesamte Konzept der Achtsamkeit ad absurdum. Achtsam zu sein bedeutet zu betrachten, nicht zu bewerten. Es bedeutet gelassen und objektiv, aus unterschiedlichen Blickwinkeln beobachten zu können. Es bedeutet den Moment gegenwärtig aufzunehmen, ohne die Zukunft damit beeinflussen zu wollen.
Wer die Bereitschaft hat, diese Fähigkeit in seinem Alltag anzuwenden, verliert früher oder später sogar jegliche Erwartung daran, dass Achtsamkeit sein Leben positiv beeinflussen könnte. Paradoxerweise tritt genau dieser Umstand jedoch dann von selbst ein.
Josef Hinterecker (Joe Wolf) ist Achtsamkeitstrainer und Buchautor. In seinem ersten von insgesamt acht Kurzbänden der Reihe „8samkeit 8.1“ beschäftigt er sich mit der Bereitschaft zu einem achtsameren Verhalten und der Fähigkeit Neues zu erkennen und zu erlernen.
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