Wachküsser im Unruhestand
Dr. Leopold Stieger, Pionier der »Personalentwicklung« in Österreich wird 80 und spricht exklusiv über Personalentwicklung, Freitätigkeit und den größten Fehler seines Lebens… Mit Kurz-Video-Blog & ausführlichem Interview.
1972 gründete Leopold Stieger die »GfP«, Gesellschaft für Personalentwicklung, und blieb bis zum Jahr 2006 deren geschäftsführender Gesellschafter. Nach der Übergabe der Firma an zwei seiner vier Söhne dachte er aber nicht im Traum daran, kürzer zu treten. Frei nach dem Motto »Wer rastet der rostet« schuf er die Plattform »seniors4success« für die ältere Generation, die er unter dem Schlagwort »Freitätigkeit« – näheres dazu weiter unten – motiviert, fordert und fördert, mit Freude sinnerfüllt aktiv tätig zu bleiben.
Leopold Stieger im Video-Talk (4:40 min)
mit seinen Söhnen Clemens und Florian – über Pioniersgeist, Entwicklung und den größten Fehler seines Lebens… (bitte klicken – Video öffnet sich via Facebook)
Das Video enthält u.a. folgende Themen:
00:20 >> Über den Pioniersgeist in der GfP – und die Erfindung der »Personalentwicklung« in Österreich
01:05 >> Vom »Übergang in die Pension« – und warum das Freuden-Thema Leopold Stieger Sorgen bereitet
01:55 >> Über die Vorbereitung auf die Pension – und was hat sich in der Einstellung zu diesem Thema getan hat
02:50 >> Wie es den »Erben« mit der GfP geht – und von großen Fußstapfen, in die man treten durfte
03:35 >> Über den Glauben an die »Entwicklung« in der Personal- und Organisationsentwicklung
04:00 >> »Mein größter Fehler war…« – Der Erfinder der Personalentwicklung in Österreich blickt zurück
Leopold Stieger im Interview
über Themen, die sein Leben und sein Lebenswerk prägten:
Wie entstand die »Personalentwicklung«?
Ich war 5 Jahre lang in einem öffentlichen Managementinstitut. Dort ist mir bewusst geworden, dass wir in der Aus- und Weiterbildung ein falsches Bild haben, nämlich das vom sogenannten Nürnberger Trichter: Dabei wird ein (Seminar-) Programm oben in den Trichter hinein geben und man weiß genau, dass unten nicht sehr viel heraus kommt. Und den Schülern bzw. den Mitarbeitern in Unternehmen wurde vermittelt, dass sie selber schuld wären, wenn sie nichts gelernt haben.
Ich habe mich dann gefragt, wie der umgekehrte Weg wäre – wenn es nicht um das Vermitteln geht, sondern vielmehr darum, die Leute auf etwas neugierig zu machen, und sie das dann von selber und aus eigenem Antrieb lernen, weil das Neue so spannend ist … so wie man das bei kleinen Kindern beobachten kann. Und das habe ich unter »Personalentwicklung« verstanden – das Wort hat es irgendwie in Deutschland schon gegeben, aber nicht in dieser Form und auch noch nicht in der Literatur –, dass Führungskräfte wie Mitarbeiter gleichermaßen aufwachen und erkennen, dass sie sich selbst entwickeln können, aus eigenem Antrieb, dass die Leute fasziniert sind von den kommenden Themen. Die Entwicklung erfolgt dann von selbst – von der kleinen hin zur größeren Öffnung des Trichters.
In einem Interview wurde ich einmal gefragt, ob ich mich als »Wachküsser« sehe, der den Menschen zeigt, dass in ihnen viel mehr Potential, Wissen und Können steckt, als sie glauben. Der Begriff gefällt mir nach wie vor sehr gut!
Was bedeutet »Personalentwicklung«?
Personalentwicklung heißt, die Potentiale der Menschen bewusst erkennen zu helfen und mit diesen Potentialen etwas zu tun und sie zu nützen. Jeder hat andere Erfahrungen und weiß und kennt etwas anderes – das miteinander zu verbinden, aber nicht sendend , sondern entwickelnd, das ist Personalentwicklung: das Neugierig machen, das Heraushorchen, was da drin wäre.
Früher wurden für zukünftige Personalentwickler ganze Lehrgänge erstellt, die die Leute besucht haben und die bis zu zwei Jahre gedauert haben. Die Teilnehmer haben Aufgaben bekommen, die sie zuhause bzw. in der Firma lösen sollten. Und nicht nur lösen, sondern auch verinnerlichen, weil nicht immer alles beim ersten oder zweiten Mal funktioniert. Es ist ein Prozess, an dem man arbeiten muss, an dem man sich »selbst entwickelt«. Und dieser Prozess dauert eine Zeit lang. Während dieser Zeit hat man die Kunden begleitet und ihnen geholfen, am Ball zu bleiben, den Prozess zu verändern oder auszuweiten. Neben diesem Prozess haben die kommenden Personalentwickler*innen selbst an sich gearbeitet und sich entwickelt. Damit sie es verstehen, verinnerlichen und so an den Kunden weitergeben konnten.
Wie war es, die Firma an die nächste Generation zu übergeben?
Ich habe nicht genau gewusst, wie man eine Firma übergibt, wie es einem dabei geht. Ich habe die GfP und zwei andere Firmen von der Pike aufgebaut und es ist etwas daraus geworden. In meiner Beratungstätigkeit gab es auch einige Firmen, wo der Senior gesagt hat: Jetzt übernimmt der Sohn und der wird das jetzt alles steuern. Aber entschieden hat dann doch noch der Vater und auf der Messe ist er vorne gestanden und der Sohn hinten. Obwohl die Gründer es gut meinen, wissen sie oft nicht, was sie tun sollen, wenn sie kein anderes Bild im Kopf haben als diese Firma. Sie wollen sich zwar zurück halten und legen die Hände auf die Schultern des Kindes, damit es spürt, die Eltern stehen hinter dir und zu dir. Aber wenn der Sohn oder die Tochter links geht und der Vater würde rechts gehen, dann spürt er das. Das ist eine Steuerung von hinten, die keine Freiheit lässt. Deshalb war mir klar, ich darf nicht mehr in den Firmen drinnen bleiben und ich habe aus dieser Erkenntnis alle Kompetenzen und Aufgaben an die Söhne übergeben.
Wie meistert man den Übergang?
Nach der Übergabe meiner Firmen habe ich eine Entscheidung für mich getroffen, dass ich nie aufhören möchte zu arbeiten – bis heute nicht. Ich möchte etwas Neues schaffen und eine Zielgruppe, für die bislang niemand etwas machte, waren die Menschen im Übergang. Der Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand ist so gravierend, wie man es sich kaum vorstellen kann. Und es gibt das auch kaum jemand zu. Vor 15 Jahren nicht und auch heute kaum noch. Wie es sich anfühlt, wenn man 40 Jahren gearbeitet und sich mit einem Unternehmen, einem Produkt und einer Organisation identifiziert hat – und am nächsten Tag ist der Schlüssel weg und die EDV verwehrt. Wenn man auf Besuch kommt und es nimmt sich kaum noch wer Zeit für einen Kaffee und interessiert sich für dich – weil alle an Bildschirmen sitzen, wo jede Minute Antworten und Aktionen erwartet werden.
Worum geht es beim »Übergang«?
Es geht um Hilfe für die Menschen, die gehen und Beratung für Firmen, wie sie mit diesen Menschen in der Zeit des Übergangs sinnstiftend umgehen, um vielleicht deren Wissen und Erfahrung auch noch später nutzen zu können. Damit niemand im Zorn weggeht und vielleicht die Reputation der Firma schädigt. Dieser Gedanke, wie könnte ich meine pensionierten Mitarbeiter nutzen, wird sträflich vernachlässigt, da geht viel Potential einfach den Bach runter. Heute, wo alle wegen Fachkräftemangel aufschreiben, gehen viele Menschen viel zu früh beim Tor hinaus. Wie das besser und wirtschaftlich effektiver gemacht werden kann, vermittle ich in meinen Seminaren.
Wie schaut Ihre Entwicklungshilfe für den Schritt von der Arbeit in die Pension aus?
Das Wichtigste ist, sich rechtzeitig auf die Zeit nach der Pensionierung vorzubereiten – aus eigenem Antrieb, denn im Berufsleben hat man sich immer von Schritt zu Schritt in der Karriere durch irgendeine begleitende Maßnahme entwickelt – zum Beispiel durch ein Führungsseminar vom Verkäufer zum Verkaufsleiter. Aber für den Schritt von der Arbeit in die Pension gab und gibt es pratisch keine Entwicklungshilfe.
Deshalb habe ich die Plattform »seniors4success« gegründet, samt umfassender Website und kostenlosem Newsletter, den heute rund 1800 Personen regelmäßig auf ihre Bestellung hin erhalten. Das war sozusagen der Schlüssel, das Kommunikationsmittel für dieses neue Denken und auch für eine Zusammenarbeit. Mit dieser Plattform richte ich mich an die Menschen rund um die Pensionierung, um sie wach zu rütteln, an sich selber und an ihre Talente zu glauben. Ich sehe so viele Menschen, die es ablehnen, über die Zeit nach ihrem Beruf nachzudenken.
Worum geht es in der »geschenkten, neue Lebensphase der Freitätigkeit«?
Früher war man es gewohnt, dass die dritte Lebensphase – nach Ausbildung und Beruf – der Ruhestand ist. Mein Großvater zum Beispiel hat bis 65 gearbeitet, danach war er daheim, tat ein bißchen etwas, war dann etwas krank und wieder gesund, bis er dann gestorben ist. Und das war damals selbstverständlich – und die Gefahr ist, dass wir das heute noch genauso sehen, mit einer kleinen Ausnahme: Wir sind noch ein paar Jahre länger gesund und fit und es geht nicht wie beim Großvater gleich mit der Pensionierung rapid bergab. Heutzutage werden wir durchschnittlich älter und bleiben länger gesund: Die Lebenserwartung steigt laut wissenschaftlicher Erkenntnis alle 24 Stunden um 6 Stunden! Also warum die Zeit nicht sinnvoll und sinnstiftend nutzen – als Lebensphase »Freitätigkeit« zwischen Beruf und Ruhestand:
1) Ausbildung
2) Berufstätigkeit
3) Freitätigkeit
4) Ruhestand
Es geht nicht vordergründig darum, eine Beschäftigung zu finden, sondern die Talente des Alters zu entdecken – und dabei nicht nur diejenigen, die einem gleich einfallen, sondern auch die versteckten. In meinem Buch »Freitätigkeit« versuche ich in 15 Schritten Menschen bei der Suche nach ihrer Mission und Vision zu helfen und zu motivieren. Es genügt aber nicht, das Buch durchzublättern, sondern es ist eine herausfordernde Arbeit, die 15 Fragen zu beantworten und dann mit den ersten Ergebnissen zu kritischen Freunden und Reibebäumen zu gehen, um Feedback, Infos und Ideen zu holen. Das ist harte Arbeit, aber es kann sich lohnen und es kann etwas entstehen und wachsen.
Wie kommt man vom Durchhängen zum Durchstarten?
Es liegt in der Entscheidung jedes Einzelnen, welchen Hebel man an der entscheidenden Lebensphase des Übergangs betätigt. Man kann sich entweder schonen oder zu sich sagen: „Ich bin eigentlich fit, ich kann was! Ich bin eigentlich voll in Ordnung also warum sollte ich mich langsamer bewegen, nur weil ich 65 geworden bin.“ Das ist eine Entscheidung im Hirn. Das Denken beeinflusst das Handeln. Das Hirn ist in der Lage, den Körper rasch auf dieses Stadium »Ruhestand« zu bringen. Man gewöhnt sich eventuell in der ersten Zeit der Pension an das Bild des Großvaters, man beginnt sich langsamer zu bewegen und dies nicht aus physischer Schwäche, sondern weil man es sich altersgerecht so vorstellt. Sind Gedanken erst einmal so geprägt, lösen sie im Körper diese Vorstellungen aus. Es ist einfach tragisch, weil ich das oft so beobachten kann.
Kurzum: Ich selbst kann und muss die Entscheidung treffen, ob ich mit der Pension in der Hängematte liege oder etwas Neues machen möchte, das mir persönlich Freude bereitet und mir gut tut. Dieses Durchstarten ist jedoch eine Entscheidung, die nicht aufgeschoben werden darf, denn es läuft leider eine Uhr. Und je später ich mir die Frage stelle, was ich in der dritten Lebensphase machen soll, umso geringer sind die Chancen, etwas zu finden. Also küssen Sie sich selbst wach und bleiben Sie nach der Pensionierung FREI und TÄTIG, Geist und Körper werden es Ihnen danken!
Tags: Pension Freitätigkeit