Der »Proximity Bias« - Aus dem Auge aus dem Sinn...

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#Beratungssplitter Nr. 41
Von Clemens Stieger

»Bias« deutet schon auf etwas hin: eine Verzerrung, ein Fehler, ein Vorurteil. Und das hören wir nicht gerne. Schließlich wollen wir sachlich, rational und unvoreingenommen sein.

Aus dem Englischen übersetzt meint »Bias« ein unverhältnismäßiges Gewicht zugunsten oder gegen eine Idee oder Sache, normalerweise auf eine Art und Weise, die verschlossen, nachteilig oder unfair ist.frank vessia Z3lL4l49Ll4 unsplash230x200

Etliche »Bias«-Begriffe kennen wir bereits aus unterschiedlichen Wissenschaften – mehr dazu weiter unten – hier soll es um ein Phänomen gehen, das in Zusammenhang mit Homeoffice & Co hochaktuell ist: Wenn Mitarbeiter*innen im Homeoffice merken, dass sie anders behandelt werden, als ihre Kolleg*innen vor Ort im Büro…

»Proximity Bias« – Näher ist »besser«?

Übersetzen kann man den Proximity Bias mit »Verzerrung durch Nähe«. Der Fehler besteht darin, dass wir Personen bevorzugen oder besser bewerten, denen wir räumlich näher sind und die wir häufiger sehen. Weil hier mehr direkter Kontakt ist, bleiben sie mehr in Erinnerung. So werden Teamkolleg*innen, die aufgrund der physischen Nähe oft um Rat gefragt werden, als hilfsbereiter erlebt als entfernte Kolleg*innen, die genauso gut Ratschläge geben könnten.

Im Arbeitskontext bedeutet dieser Denkfehler, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die näher an ihren Vorgesetzten oder am Team dran sind, als bessere Arbeitskräfte wahrgenommen werden. In weiterer Folge kann das dann dazu führen, dass diese dann auch mehr Erfolg im Beruf haben. Sie werden produktiver erlebt und auch häufiger für wichtige Aufgaben und Rollen ausgewählt.

Inzwischen liegt eine Vielzahl an Studien vor, die dieses Phänomen belegen. Mitarbeiter*innen, die ausschließlich im Homeoffice sind, werden beispielsweise seltener befördert als Kolleg*innen im Büro. Das trifft besonders spezielle Gruppierungen (wie junge Mütter, Pendler etc.) und trägt damit zu Diversitätsproblemen bei. Anfälliger für den »Proximity Bias« sind Unternehmen, die in konservativen und hierarchischen Strukturen arbeiten, da hier häufig noch die Einstellung dominiert, dass gute Arbeit Anwesenheit Büro voraussetzt.

Auswege aus dem Bias-Dilemma – insbesondere beim hybriden Arbeiten

Die aktuelle Situation des hybriden Arbeitens und der hybriden Teams verstärkt dieses Problem nun. Die Gefahr besteht, dass die Personen, die mehr Präsenz im Office zeigen, bevorzugt werden und die anderen im Homeoffice langsam übersehen, benachteiligt und damit mittelfristig wegdriften.

Was können Führungskräfte tun, um mit diesem Denkfehler besser umzugehen?

Schritt 1 besteht einmal darin, sich dieses blinden Flecks bewusst zu werden. Niemand ist davor gefeit. Das kann ich als Führungskraft selbst tun, besser natürlich, wenn es auch im Team passiert. Gut ist es daher, vorherrschende Vorurteile zu thematisieren und offen anzusprechen.

Im Schritt 2 gilt es dann als Chef und im Team aktiv daran zu arbeiten, die Vorurteile abzubauen. Hier hilft beispielsweise, dass klar und transparent geklärt wird, wer in welcher Rolle wie zum Unternehmenserfolg beiträgt. Insbesondere bei wichtigen Entscheidungen oder bei der Verteilung von Aufgaben und Projekten sollte reflektiert werden, ob der Proximity Bias hineinspielt.

Schritt 3: Gerade als Führungskraft gilt es dafür zu sorgen, dass die Nähe auch zu den Mitarbeiter*innen erhalten bleibt, die weniger präsent sind. Dies kann durch vermehrten Kontakt, regelmäßige Abstimmung und Gespräch erfolgen. Empfehlenswert ist es auch, beispielsweise in hybriden Meetings den Remote-Teilnehmer*innen den Vorrang zu geben oder sie sogar einen Teil des Meetings moderieren zu lassen.

Schritt 4: Mitarbeiter*innen, die oft von zu Hause aus arbeiten, sollten motiviert werden, ebenfalls den Kontakt suchen und ihre Vorgesetzten regelmäßig über erledigte Aufgaben und Erfolge zu informieren.

Die eigenen Erfahrungen mit remote Work sind überaus hilfreich, um die Arbeitssituation im Homeoffice, die nötigen Tools und Technik nachvollziehen zu können. Da haben wir aktuell eine gute Ausgangssituation: wir alle kennen es!

Bonus-Wissen (für Streber) in Sachen Kognitionspsychologie

Der Proximity Bias zählt zur Familie der kognitiven Denk- und Wahrnehmungsfehler, von denen die Kognitionspsychologie eine Vielzahl kennt. Bekannt sind u.a. der confirmation bias
(die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen) oder der Halo-Effekt (die Tendenz, von bekannten Eigenschaften einer Person auf unbekannte Eigenschaften zu schließen).

Und diese zeigen uns sehr deutlich auf, dass viele unserer Entscheidungen und Handlungen nicht so sachlich ablaufen, wie wir es gerne hätten. Der Grund dafür ist aber einfach: Im Alltag sind wir mit Millionen von Sinneseindrücken pro Sekunde konfrontiert, nur einen Bruchteil davon können wir bewusst wahrnehmen. Unser Gehirn, unser Unterbewusstsein hilft uns, diese Flut an Informationen, Reizen und Eindrücken zu verarbeiten, in dem sie automatische Selektionen und Abkürzungen vornimmt. Auch wenn damit teils dramatisch Denkfehler verbunden sind, so ist es ein wichtiger Überlebensmechanismus, ohne den wir wahnsinnig werden würden.

 

Bild:Unsplash