Lernen - am »real case«

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#Beratungssplitter Nr. 58

Von Clemens Stieger

Es ist kurz vor halb neun. Meine Kollegin und ich sind noch in den Vorbereitungen. In einer halben Stunde startet der zweite Tag des Führungsprogramms für junge Führungskräfte in einem internationalen Technologiekonzern. Pandemiebedingt natürlich online.
Das Telefon läutet, ein Teilnehmer ist dran. “Ich möchte euch nur sagen, dass wahrscheinlich einige erst später dazukommen werden. Wir haben in der Früh ein Mail vom CEO bekommen, dass es wichtige Informationen für alle Führungskräfte gleich um neun Uhr gibt”.
Damit ist klar: alles wird anders… Störungen haben Vorrang. Und so schalten meine Kollegin und ich gleich in den Krisenmodus und vereinbaren, dass wir eine Stunde später starten. Wir informieren die Teilnehmenden in allen Kanälen. Parallel stolpern laufend weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer kurz in unsere Session, um uns zu informieren, dass sie beim Infomeeting dabei sein wollen und erst später kommen können. Sie sind überrascht, dass wir es schon wissen und die Beginnzeit entsprechend verschoben haben.
Dann wird es ruhiger. Wir überlegen, was wohl die Nachricht sein könnte. An der Anspannung unserer Teilnehmer*innen war spürbar, dass es wichtig sein könnte. Kurzfristig entscheiden wir, das Programm zu ändern. Wir nehmen nun das Thema “Change und Umgang mit Veränderung” auf die Agenda.crawford jolly X6dGWWcSdds unsplash

Eine Stunde später tröpfeln die Teilnehmer*innen langsam ein. Wir holen sie ab, lassen sie darüber reden, wie es ihnen geht. Die Emotionen und Sichtweisen sind recht unterschiedlich. Wir bieten ihnen verschiedene Modelle und Konzepte aus dem Change-Management an, die sie gleich auf ihre Situation anwenden können. Eine Teilnehmerin fehlt noch. Gemeinsam überlegen wir, was der Grund dafür sein könnte und was wir tun könnten. Einer der Anwesenden übernimmt, sie direkt anzurufen. Kurz darauf ist auch sie wieder dabei. Sie war nach der Information so mit sich beschäftigt, dass sie auf den Workshop vergessen hat. Sie war total dankbar, dass sie kontaktiert wurde. Und sie war auch berührt, dass sich die anderen Sorgen gemacht hatten.
Die Rückmeldung nehmen wir als Anlass zu fragen, wie es wohl den eigenen Mitarbeiter*innen gehen wird, die wenig bis gar nichts wissen. Was ist da die aktuelle „Führungsherausforderung“?
Zuerst als Einzelarbeit und dann in Kleingruppen planen sie ihre Mitteilung an das eigene Team. Sie bekommen Feedback und schauen sich Ideen von den anderen ab. Dann kommt die nächste Aufgabe: in der Mittagspause den Plan umsetzen und die eigenen Leute informieren. Aufregung ist spürbar…
Die Teilnehmer*innen sind am Ende des Tages erschöpft. Es war ein intensiver Tag, der anders verlaufen ist, als sich alle vorgestellt haben. Einig sind sich aber alle: gelernt haben wir viel!

Meine Kollegin und ich sind müde, aber auch zufrieden. Wenn Themen nicht mehr nur „theoretisch“ behandelt werden, wenn keine „Simulation“ und „Rollenspiele“ gebraucht werden, weil die Situationen real sind, dann findet Lernen so gut wie sicher statt. Es ist allen klar, wofür gelernt wird. Das Neue ist dann ein Antwortversuch auf die Herausforderung und muss sich in der Realität beweisen. Es braucht keinen eigenen „Transferprozess“ mehr, weil die Umsetzung Teil des Lernprozesses ist. Die Komfortzone muss definitiv verlassen werden, aber Support und Unterstützung sind auch gegeben.

Klar, einen standardisierten „Trainings-Leitfaden“ gibt es hier nicht mehr. Wir Lernbegleiter*innen sind auch gefordert, die nötige Unterstützung zu bieten und passende Werkzeuge und Modelle anzubieten. Wir müssen reagieren, reflektieren und laufend adaptieren.
Wie so vieles ist auch das kein neuer Ansatz. Dass Mitarbeiter*innen einer Organisation am besten anhand einer realen Herausforderung lernen, hat schon Revans in den 50er-Jahren mit seinem Konzept des „Action Learnings“ beschrieben - ein Lernansatz, den wir sehr schätzen und von dem wir viel profitiert haben. Lernen wandert damit auch wieder an den Arbeitsplatz zurück. Lernen wird Arbeit, Arbeit wird Lernen, wie der Lernexperte Harold Jarche so treffend sagt.

Nachtrag:
Gegen Mittag kommt der Anruf der Personalentwicklerin. “Ich möchte euch nur sagen, der CEO hat an alle Führungskräfte heute wichtige Informationen zur weiteren Zukunft des Unternehmens mitgeteilt. Es kann also sein, dass vielleicht der eine oder die andere Teilnehmer*in betroffen und vielleicht die Stimmung anders ist…”

 

 

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