Können Fragezeichen irren?
Learnings aus „Back to normal?“ – mit Fragezeichen. Wir haben in der Covid-Krise (neben den vielen negativen Aspekten) auch eine Chance für einen möglichen Strukturwandel hin zu neuen Organisations- und Arbeitsformen gesehen. Wir haben uns geirrt!
Von Clemens Stieger
Die Frage „Back to normal?“ haben wir für uns klar beantwortet: Nein, es gibt kein Zurück! Jetzt ziehen wir die Lehren aus den Erfahrungen. Wir geben unseren Irrtum zu!
Auch wenn es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, ist es noch gar nicht so lange her, dass uns die COVID-19-Pandemie in die Quarantäne und ins Homeoffice gezwungen hat. Die negativen Auswirkungen werden uns noch länger begleiten, aber auf der positiven Seiten können wir zumindest etwas verbuchen: Dass die Digitalisierung quasi über Nacht in den Unternehmen und bei den Mitarbeiter*innen angekommen ist. Das haben die IT- und HR-Projekte trotz jahrelanger Bemühungen nicht geschafft.
Wir haben uns in der GfP sehr früh Gedanken darüber gemacht, wie sich die Pandemie auf Arbeit, Lernen und Organisationen auswirken wird. Wir waren zuversichtlich, dass etwas entstehen würde, worüber wir uns freuen könnten. Bereits im Mai 2020 haben wir eine interne Diskussionsrunde ins Leben gerufen. Unser Tenor war, dass der Virus ein Brandbeschleuniger für etwas sein wird, das ohnehin ansteht: Wir brauchen andere Organisations- und Arbeitsformen, Homeoffice kann ein Performance-Booster sein, Lernen wird neue, wirkungsvollere Wege finden etc. Unser Eindruck war, dass die Krise den nötigen Kick für tiefgreifende Veränderung gegeben hat und dass es kein „Zurück zur Normalität“ mehr geben kann, weil wir das Neue erlebt und Blut geleckt haben.
Mit dem gewonnenen Abstand müssen wir nun unsere Einschätzungen kritisch hinterfragen: Auch wenn viele von den positiven Möglichkeiten des virtuelles Austauschs, von Meetings und Trainings überrascht sind, finden fast alle Veranstaltungen wieder in Präsenz statt. Anbieter freuen sich, dass die Buchungszahlen für Präsenzveranstaltungen wieder das Ausgangsniveau von 2019 erreicht haben. Online-Veranstaltungen gelten wieder als „Events 2. Klasse“ – wenn es anders nicht geht. Es wird wieder mehr denn je gereist, obwohl alle die Qualität erlebt haben, nicht so viel unterwegs sein zu müssen. Und: Ein Unternehmen nach dem anderen ruft seine Mitarbeiter*innen wieder aus dem Homeoffice zurück – trotz der überraschenden Performance (wie Lockdown-Studien ergaben) und der hohen Zufriedenheit vieler Mitarbeiter*innen.
Wir müssen nun sagen: „Back to normal!“ hat gesiegt, das Rufzeichen hat das Fragezeichen verdrängt.
Es geht ums Lernen – ob aus Fehlern oder Irrtümern
War unsere Einschätzung falsch? Sie hat sich nicht bewahrheitet. War es ein Fehler? „Fehler“ bedeutet, dass ich eine Grundlage habe, auf der ich (auch im Vorhinein) entscheiden kann, ob das Ergebnis falsch oder richtig ist. Bei Fragen, Ideen, Vorhaben, bei denen wir zum Zeitpunkt der Entscheidung eben noch nicht wissen, ob ich das gewünschte Ergebnis erreiche, müssen wir Annahmen und Thesen aufstellen. Erst im Nachhinein wissen wir, ob wir damit richtig lagen oder nicht. Dann können wir auch sagen: „Ich habe mich geirrt“. Irrtum bedeutet (im Gegensatz zu Fehler), dass ich etwas zum Zeitpunkt meiner Entscheidung nicht besser wissen konnte.
Wir haben uns nur geirrt, wir haben keinen Fehler gemacht! Das soll keine Entschuldigung sein. Und mit dem Eingeständnis eines Irrtums ist das Thema auch nicht erledigt. Denn jetzt geht es um das Lernen. Wir haben etwas ausprobiert, Erfahrungen gesammelt und die gilt es nun auszuwerten und daraus neue Schlüsse zu ziehen. So können wir am Ende klüger sein, als wir gestartet sind.
Einige unserer Learnings
- Wir haben die Sehnsucht unterschätzt, das traumatische Element der Krise einfach „hinter sich zu lassen“, und so zu tun wie vorher.
- Während der Pandemie ist vieles auch nicht gut gelaufen. Führungskräfte haben das Vakuum nicht gefüllt, die technischen Voraussetzung für Remote-Austausch waren auch nach dem dritten Lockdown oft nicht gegeben, soziale Überforderung im privaten Bereich war nicht die Ausnahme, soziale Distanz führte auch zu Kontaktverlust etc.
- Die Krise war zu kurz: Neue Routinen konnten (noch) nicht aufgebaut werden. Das Alte gibt Sicherheit und ist vertrauter.
- Wir denken stark in Schwarz/Weiß: Entweder wir arbeiten virtuell oder in Präsenz. Für die Mischung, also „hybrid“ braucht es wieder andere Fähigkeiten. Damit „sowohl als auch“ möglich wird, müssen die Chancen und Grenzen der verschiedenen Varianten bekannt sein. Hier fehlt/e es noch an Auseinandersetzung und Reflexion.
Learnings von anderen: „unfreeze“ Modus
Linda Gratton von der London Business School skizzierte 2021 in einem Artikel in der Harvard Business Review die Rahmenbedingungen für hybrid work – als eine Chance für neues Arbeiten. Zwei Jahre später kommt sie in einem weiteren Artikel zu dem ernüchternden Schluss, dass dieser Wandel ins Stocken geraten ist und wir weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Ihre Einschätzung: ein derartiger Wandel ist doch deutlich tiefgreifender und bedroht vielfältige, tief verwurzelte Annahmen über Arbeit. Es braucht viel mehr Zeit. Und sie betont auch, dass wir uns in einem „unfreeze“ Modus befinden. Auch wenn es nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, so ist doch vieles in Bewegung. Die Transformation ist im Gange. Aber wie so oft sieht man Entwicklung und Veränderung nicht während des Prozesses, sondern erst im Nachhinein.
Wir haben uns also doch nicht geirrt, sondern sind nur zu ungeduldig? Dann verdient die Hypothese „Back to normal“ vielleicht doch noch ein Fragezeichen?